Jugend Wahn

Gestern war ein famoser Abend. Meine Freundin Kerstin hat wieder zum Leseabend eingeladen. Das Thema, Jugend Wahn. Ehrlich gesagt, konnte ich mir darunter nicht so recht was buchtechnisches vorstellen. Mir schwirrten bei den beiden Worten nur Bilder im Kopf rum. Da streifen mich aufgedunsene Lippen, jugendliche Sportwagen mit tiefsitzenden alte Männer und ältere Damen in kurvigen, kurzen Kostümen. Die Bilder in meinem Kopf sind ausgesprochen plakativ und bedürfen keine Texte.
Und, obwohl ich erst gar nicht zum Leselampen-Abend gehen wollte, weil ich vom doofen warten gerade zu viel hatte und der ganze Tag so verlaufen war, als wenn es mich darin nicht gegeben hätte, hab ich mir einen Ruck gegeben. Ich wollte aus diesem verflixten Tag noch einen feinen machen.

Die anderen Gäste sind enorm schlau, sie kennen die Autoren, die Bekannten der Autoren und manchmaloft sogar ihr Geburst- und wenn nötig noch ihr Sterbejahr. Beim ersten Leselampen-Abend hat mich das räumliche Allgemeinwissen so sehr geschüchtert, dass ich völlig überlastet mit meinem Wie-kaschiere-ich-meine-Unwissenheit da saß. Erst beim Nach-hausegehen bemerkte ich, wie angespannt meine Muskeln waren. Sie lockerten sich nur schwer beim zurücklaufen durch die Schanzenstraßen. Ich musste ihnen gut zureden “In Bildern denken zu können ist auch eine große Stärke, liebe Muskeln! Es ist doch schön, wenn wir alle so unterschiedlich sind und uns ergänzen können. Ist nicht gerade das das Erfrischende in Gemeinschaft!”

Gestern war es toll, ich habe bei jeder Kurzgeschichte, jedem Gedicht und jedem langen Text die Augen geschlossen und mich in mein Bilderzimmer-Kopf zurückgezogen. Renate kann so wunderschön lesen, so herrlich ruhig, dass meine Bilder auch die Zeit bekommen sich mit zu bewegen. Alle Texte waren anders und bei jedem konnte ich herausfühlen, was sie sich gedacht haben musste, als sie die Geschichte gekonnt aus ihrem Bücherregal zückte. Welch großartiges Können, noch zu wissen, in welchem Buch in welchem Regal eine Stelle mit Jugend, Wahrn oder gar mit ähnlichem wie Jugendwahrn drin vorkommt. Renate hatte eine große Auswahl an Büchern mitgebracht. Jeder Text rührte und bewegte mich.

Zu Ostern hatte Kerstin auch zur Leselampe eingeladen. Das Thema war Frühling und sie hatte eine Idee. “Schreib du doch eine Kurzgeschichte über deine Vison ein Dorf zu gründen, dann kannst du sie vorlesen und gleich horchen was die Anderen dazu sagen!”

Ich schrieb also eine Kurzgeschichte und trug sie mit flatternder Stimme vor. Zuhause habe ich mir meine eigene Geschichte, immer wenn Rado mal aus dem Haus gegangen war, laut vorgelesen. Ich hab nen Horror vorm Vorlesen und muss gestehen, das ich mich noch mit 27 geweigert habe vor anderen vorzulesen.

Doch nun hab ich mein Vorlese-rotwerd-blamier-Trauma bewältigt und mich getraut.
Hier, das war sie, die Kurzgeschichte von Ostern.

Mein 42. Frühlingsputz
Halbzeit. Ich stehe mitten im Leben. Meine Standkraft ist jetzt ganz solide.
Nun ja, manches wirft mich schon noch aus der Bahn, dann stehe ich neben mir und beginne an mir rumzuzupfen. Als wenn mein Kleid auf halb acht sitzt, dabei hatte ich mich gerade erst im Spiegel betrachtet und für ganz okay befunden. Mein Ich läuft dann im Innern seine Runden. Zum Glück kommt es mittlerweile recht schnell wieder auf seinem grünen Ast zur Ruhe und atmet tief durch. Das war früher viel schlimmer, da war mein Ich Tage außer Gefecht gesetzt.

Vor ein paar Frühlingen ist mir aufgefallen, dass ich für mich die kleinste Beziehungseinheit darstelle in der ich mich auch am längsten befinde und, dass mein Leib mit seinen zwei Armen und Beinen meine sicherste Konstante ist. Das Rumgenörgle an mir, in Mir, ist seltener geworden und meine beiden Ichs kommen viel besser miteinander aus. Natürlich wollte ich mich schon oft von mir trennen, habe dann aber doch immer noch mal die Kurve gekriegt.

Mit der Zeit ist mir beim alljährlichen Frühlingsputzen klar geworden, das meine Ichs eigentlich ganz normal sind und das die Selbstgespräche „reflektieren“ und das Feindbilder basteln „Selbstschutz“ heißt. Die Täler die wir durchwandern, braucht ein anständiges Leben angeblich. So wie die Zwangs-Hörigkeits-Phase in den ersten 14 Jahren die dicht gefolgt von der Jetzt-mach-ich-genau-das-Gegenteil in meinem Leben für was gut gewesen sein muss. Meine Ichs tanzten von einem ins andere Extrem, um EIN ausgeglichenes zu werden.

Jetzt bin ich ICH. Ich hab, ohne zu wissen, die schwarze Piste des Lebens genommen – die Kratzer die ich davongetragen habe stehen mir heute ganz gut.

In diesem Jahr steht mein 42. Frühlingsputz vor der Tür. Zeit, um den immer lauter werdenden Drang nach Veränderung Raum zu geben. Ich möchte lernen mich klingen zu lassen und den Mut haben mir zu lauschen. Meinem Herzens-Impuls will ich nachgehen, ihn herrichten und mich mit ihm sehen lassen.

Ich sehne mich nach dem respektvollen Miteinander – in mir, in meinem Umfeld und wenn ich ehrlich bin auch in der ganzen Welt. Ich will nicht mehr auf Kosten anderer leben. Weder zulasten von Menschen, Tieren noch der Natur. Mein innigster Wunsch ist es, der Natur und ihren Kreisläufen wieder nahe zu sein.

Den zweiten Teil meines Lebens möchte ich in Gemeinschaft sinnvoll wirken, handeln und mich in ihr reibend weiter entwickeln.

Was wäre, wenn ich jetzt noch den Mut hätte, – das, was ich mir eben selber eingestanden habe, laut zu sage? Vielleicht geht es anderen ja genauso? Angenommen, ich fände die Menschen, die auch jedes Jahr ihren ganz persönlichen Frühlingsputz machen und die sich auch nach einer Gemeinschaft sehnen, die teilt, sich hilft und die vor Kooperation keinen Schiss mehr hat? Werden es nicht ohnehin gerade mehr, die entschieden an sich arbeiten?

Die Grundwerte sind nicht neu, ich müsste mich gar nicht so doll erklären. Der einzige Unterschied ist, dass ich mir das Zusammenleben ohne Dogmas und jegliches Extrem vorstelle und das wir uns bemühen werden, uns vom engen Denken zu befreien. Und, ich würde mir wünschen, dass sich die Gemeinschaftsbildenden Dinge aus sich selbst heraus entfalten. Entstehen lassen ist eine hohe Kunst und die feinste Form des Werdens.

Ich habe für mich beschlossen in diesem Frühling ein Dorf zu gründen. Jahrhundertealte Leitbilder werde ich ergreifen, die in jeder Kultur zu finden sind und Gemeinschaften bereits erfolgreich getragen haben. Ich werde mich den menschlichen Schwerpunkten zuwenden – verantwortungsvoll wirtschaften, nicht mehr nazistisch Gewinn maximieren. Es geht mir auch nicht um den kompletten Verzicht sondern um die Ausgewogenheit.

Und weil ich nicht von Luft und Liebe leben kann, habe ich mir überlegt, einen Laden mit integriertem Café zu gründen. Eine Art moderner Concept-Store auf dem Land, der die Guten alten Dinge aufgesonnt und verbesondert präsentiert. Wertvolles aus Omas Schränken, gutes Spielzeug, feine Bücher und raffiniertes aus der Gegenwart. Wir könnten Sinnvolles wiederaufleben lassen, altes Wissen in Form von Produkten sprechen lassen oder gar eine Manufaktur ins Leben rufen und die im Dorf hergestellten Dinge im Laden, bei Kaffee und Kuchen, feilbieten.

Alte Möbel, Dinge und Kleider möchte ich vom Müll retten, putzen und herrichten, sie mit Neuem ankieksen oder einfach nur liebhaben, bis Gleichgesinnte darüber stolpern.

Der Laden könnte unsere Dorf-Werte transportieren. Das harmlose Hereinschlendern würde bereits die Leben unserer Gäste verändern.

Und für die, die länger bleiben und sich auf uns einlassen wollen, kann es ein Wirtshaus mit einer großen Tafelrunde geben. Probieren und Wahrnehmen. Der Tischnachbar darf unbekannt sein. Der Austausch entsteht und ein befruchten geschieht, ganz nebenbei. Und immer wieder sitzt einer von uns mit am Tisch. Der Bauer, die Wirtin, die Philosophin, der Vater … es entsteht jeden Abend ein Unikat-Abend.

Ferien im Dorf ist dann für die, die richtig eintauchen wollen. Das mit-anpacken und mit-leben-im-Dorf ist dann das Special. Das Gasthaus lädt ein zum Sein und Sich-kennenlernen. Das Ich, das Ich und das Du und auch das Ich, das Du und das Es. Singles, Mütter, Väter, Kinder – sich Fremd gewordene können wieder zu Freunden werden.

Wenn ich zurückschau, ich vor 10 Frühlingen habe auch Hilfe gebraucht aus meiner Beziehungslosigkeit zu schlüpfen. Ich hatte Gefühle verlernt zu fühlen, sie ganz verdrängt, weil sie mir wehtaten und weil sie mich, in der Welt in der ich mich befand, nur gestört haben. Dabei hätte ich sie so dringend gebraucht.

Sich dem Frühlingsputz stellen, den Sachen die dabei hochkommen nicht gleich an den Kragen zu gehen sondern sich liebevoll zu ihnen zu gesellen und ihnen freundlich „guten Tag“ zu sagen, das hab ich mühevoll gelernt und damit hab ich mir geholfen die Augen zu öffnen.

Was, wenn es uns gelänge in einer Gemeinschaft zu leben die bereit ist, immer wieder zusammen einen Frühlingsputz zu machen und die in den Hinterletzten Ecken der Gruppe den Staubmäusen aufspürt und ihnen den Gar aus macht.

Sobald der Schnee getaut ist und die Luft sich wärmt, werde ich mich auf die Suche machen, offen für das-mich-der-ort-und-die-menschen-finden.

Agapi, 1. April 2013

Gestern beim nach Hause gehen, war mir wohl ums Herz. Ich habe mich gut gefühlt, weil ich mich in der herzlichen Runde von Kerstins Freunden so wohl fühle. Und das, obwohl sie alle so gut mit Worten und Jahreszahlen in Kombination mit Autoren sind, deren Namen ich noch nicht mal aussprechen könnte. Aber das macht nichts, meine Gefühle zum Gehörten und meine Äußerungen haben dem Abend und mir gefallen. Ich bin rund. In mir sieht es ganz gut aus. Ich hab das Gefühl das ich bei mir angekommen bin.

Danke Kerstin, danke Renate, danke ihr lieben! Es war sehr schön mich gestern in so respektvoller, freudiger und tiefsinniger Gemeinschaft zu wissen. Solche feinen Abende wünsche ich mir auch “im Dorf”.

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